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Interview mit Olaf Jastrob
Olaf Jastrob, Sachverständiger für Veranstaltungs- und Besuchersicherheit sowie Vorsitzender im Deutschen Expertenrat für Besuchersicherheit (DEB), erläutert im Interview mit dem TÜV Nord Problematiken im Umgang der Corona-Pandemie.
Woran scheitern Hygienekonzepte aktuell?
OLAF JASTROB: Wir haben es mit einem Versagen im Infektionsschutz in dreifacher Hinsicht zu tun. Einmal nützt das beste Hygienekonzept nichts, wenn der Anteil der Ausscheider in der Bevölkerung - auf Grund welcher Umstände auch immer - zu hoch ist. Keine Infektionsschutzmaßnahme, seien es Impfungen, Maskenpflicht oder Abstandsregelungen, ist zu 100 Prozent wirksam; in jeder dieser Maßnahmen gibt es „Löcher“. Werden mehrere Maßnahmen miteinander kombiniert - und dies ist ja Inhalt eines Hygienekonzeptes -, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines „Durchbruchs“ durch die Maßnahmen, aber nie auf Null. Ist jetzt der Anteil der Ausscheider in der Bevölkerung zu hoch, ist es unausweichlich, dass es bei der Begegnung vieler Menschen zu solchen Durchbrüchen kommen muss. Aus diesem Grund müssen Hygienekonzepte und die darin beschriebenen Maßnahmen immer auch an die aktuellen Inzidenzen bzw. die tägliche Lage angepasst werden; dies ist zumeist nicht geschehen, im Gegenteil, man sah etliche Veranstaltungen, die die Hygienekonzepte als lästige bürokratische Pflicht oder als Freifahrtschein für die Wiedereröffnung sahen. Diese Herangehensweise führt jetzt dazu, dass die Maßnahmen in ihrer Wirksamkeit einfach nicht zum Infektionsgeschehen passen.
Zweitens versagten die Aufsichtsbehörden, bei der Zulassung von Veranstaltungen und Durchführung von Veranstaltungen bzw. der Wiederinbetriebnahme von Locations die Qualität und die tatsächliche Umsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen zu prüfen. Es ist nicht so, dass es nicht genügend Empfehlungen der Branchenverbände gegeben hätte, wie Hygienekonzepte gestaltet werden sollten und welche Inhalte darin berücksichtigt werden müssten; ich möchte nur auf die einschlägigen Veröffentlichungen des Deutschen Expertenrates Besuchersicherheit wie die Richtlinie für die Sicherheit bei Veranstaltungen, VaSi-Ri, und das Rahmen-Hygienekonzept verweisen. Doch leider gab es etliche unseriöse Betreiber und Veranstalter, und auch etliche unseriöse Dienstleister am Markt, die entweder fachlich ungenügende oder fahrlässig optimistische Hygienekonzepte verfassten und zur Anwendung brachten. In manchen Locations war das Konzept reines Wunschdenken, und die Einhaltung der Maßnahmen wurde weder von Verantwortlichen noch Aufsichtsbehörden hinreichend überwacht. Dies führte dazu, dass Infektionsschutzmaßnahmen vielfach unterlaufen wurden.
Dies geht Hand in Hand mit dem dritten Versagen: der mangelnden Mitwirkung der Veranstaltungsbesucher. Deutschland hat - im Vergleich zu anderen, ähnlich entwickelten Staaten - eine erschreckend niedrige Impfquote und ebenso erschreckend viele Maßnahmenverweigerer. Durch die laxen Kontrollen und eine allgemeine „Sankt-Florians-Haltung“ im Sinne von „Heiliger Sankt Florian/verschone meine Veranstaltung/steck andere an“ der Beteiligten wurde in den letzten Monaten ein fruchtbares Feld für die jetzt zu beobachtende, massive Entwicklung bereitet. Wissenschaftler und seriöse Berater hatten diese Entwicklung befürchtet und davor gewarnt, doch leider führte dies vielfach nicht zur notwendigen Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Thema. Die Diskussion um einen großen Weihnachtsmarkt, der trotz absehbarer dramatischer Entwicklung noch in diesen Tagen bewusst damit beworben wurde, dass es keinerlei Maßnahmen - außer einem Abstandsgebot - und keinerlei Kontrollen geben solle, ist beispielhaft für das grob fahrlässige Ignorieren der aktuellen Entwicklungen und der Warnungen der Wissenschaftler.
Wie schnell können Hygienekonzepte nachgebessert werden?
OLAF JASTROB: Ein Hygienekonzept anzupassen, ist zumeist nur die Arbeit weniger Stunden bis Tage - doch die Umsetzung dann daran anzupassen kann anspruchsvoll sein. Viele Maßnahmen erfordern einen erhöhten Personaleinsatz, und wie wir wissen, ist das Angebot an qualifiziertem, seriösem Ordnungs- und Wachpersonal derzeit sehr eingeschränkt. Auch technische Lösungen, wie zum Beispiel automatisierte Zutrittskontrollen mit einer automatischen Überprüfung eines Impfnachweises, sind derzeit auf Grund der starken Nachfrage nur schwer erhältlich. Und was auch nicht vernachlässigt werden sollte: Es werden zwar formell derzeit keine Anforderungen an die Qualifikation der Verfasser gestellt, aber die Personen, die Hygienekonzepte verfassen, müssen dafür fachlich geeignet sein. Sind sie es nicht, handeln sie grob fahrlässig, wenn sie solche Leistungen anbieten, und beauftragt ein Veranstalter eine solche ungeeignete Person, handelt er ebenso grob fahrlässig und begeht ein Auswahlverschulden. Qualifizierte Fachberater, die Hygienekonzepte unter Berücksichtigung aller veranstaltungssicherheitsrelevanten Faktoren wie beispielsweise auch Brandschutzaspekten, baurechtlichen Vorgaben oder auch Anforderungen des Arbeitsschutzes erstellen können, sind gefragte Personen und zumeist jetzt schon gut ausgelastet.
Wer ist für ein Hygienekonzept im Unternehmen und bei Veranstaltungen verantwortlich?
OLAF JASTROB: Ein wenig hemdsärmelig formuliert: Wer das Loch gräbt, muss auch einen Zaun drumherum aufstellen - wer eine Veranstaltung durchführt, muss dafür sorgen, dass sie sicher ist. Wir sehen hier eine Verkehrssicherungspflicht aus der Stellung als Verursachergarant heraus: Der Veranstalter, der zu einer Veranstaltung aufruft, und der Betreiber, der sein Haus für eine Veranstaltung eröffnet, sind in der Pflicht, für die notwendige Sicherheit aller Personen zu sorgen, die von ihrem Handeln oder Unterlassen betroffen sind. Rein formal wenden sich die Corona-Verordnungen der Länder zur allerüberwiegenden Mehrheit an die Veranstalter, während die Pflicht, für die Sicherheit aller Anwesenden in einer Versammlungsstätte zu sorgen, explizit laut MVStättVO § 38 an die Betreiber gerichtet ist; diese können Teilaspekte davon allerdings durch schriftliche Vereinbarung auf die Veranstalter übertragen. Wie die tatsächliche Verantwortungsverteilung bei einer Veranstaltung aussieht, hängt also von mehreren Umständen und schlussendlich auch vertraglichen Absprachen ab. Eins kann man aber mit Bestimmtheit sagen: Weder Veranstalter noch Betreiber können sich jeweils vollständig von einer gewissen Verantwortung freimachen.
Haben Sie Tipps für Hygienekonzepte, die dynamische Veränderungen berücksichtigen?
OLAF JASTROB: Hier mag auf das Vorgehen, das für Sicherheitskonzepte für Versammlungsstätten im § 43 der MVStättVO vorgegeben wird, verwiesen sein: In der extrem dynamischen pandemischen Lage, in der wir uns derzeit befinden, müssen Hygienekonzepte Maßnahmen gestaffelt nach Veranstaltungsformat, belegten Flächen, erwarteten Besucherzahlen und Durchseuchung der Bevölkerung, festzumachen an der 7-Tages-Inzidenz, vorsehen. So wie wir in Ordnungsdienstkonzepten mehr Security-Kräfte vorsehen, wenn statt des Seniorenkaffeekränzchens eine Teenie-Influencer-Veranstaltung im Haus durchgeführt wird, so müssen die Betreiber und Veranstalter auch ein Spektrum an Maßnahmen vorsehen, die - gegebenenfalls kurzfristig - in Abhängigkeit von der aktuellen Lage festgelegt werden. Jeder, der jetzt versucht, Veranstaltungen durchzuführen auf einem Niveau der Maßnahmen, die vor drei, vier oder fünf Monaten festgelegt wurden, handelt in meinen Augen grob fahrlässig und nimmt billigend die Schädigung seiner Besucher in Kauf.
(Foto: DEB/TÜV Nord)
www.expertenrat-besuchersicherheit.de
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